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Geno-Impuls Nr. 8

Prozessmanagement 2.0 - von der Regel zum Prinzip. Mensch versus Maschine.

Von Thomas M. Brösamle

 

„Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ (Paul Watzlawick, 1921 - 2007)

 

Liebe Prozessmanagerinnen und -manager, wenn die Lösung für Ihre Probleme und Aufgaben immer nur der Prozess, der technische Vorgang, die Arbeitsanweisung oder eine anders geartete Regel ist, dann wird die Wirksamkeit bzw. Akzeptanz für Ihre Arbeitsergebnisse langsam und schleichend sinken. 

 

Warum? Weil diese Lösungsansätze nur für bereits bekannte Probleme taugen, also für den komplizierten, beherrschbaren (blauen) Teil der Wertschöpfung. Bei der Wertschöpfung der Ausnahme (komplex, rot)  bleiben diese Ansätze im besten Fall wirkungslos, im schlechtesten Fall führen sie jedoch ins Chaos. Wie sich so etwas dann im genossenschaftlichen Umfeld zutragen kann, möchte ich hier exemplarisch beschreiben. Dabei beschränke ich mich auf wenige Aspekte - natürlich sind die Gesamtzusammenhänge in Wirklichkeit deutlich komplexer. 

 

Erstes Jahr: 

Die VR Bank Irgendwo betreibt seit vielen Jahren sehr erfolgreich das klassische Firmenkundengeschäft. Regelungen sind kaum vorhanden und werden auch von keinem vermisst, da man auf der Vertriebs- und Produktionsseite gewachsene Strukturen hat. Die Firmenkunden in diesem Segment sind mit den Lösungen zufrieden und zahlen dafür gerne einen angemessenen und fairen Preis. Die VR Bank Irgendwo bepreist alle Geschäfte risikoadjustiert, alle vorhandenen Risiken werden beherrscht. Doch dann meldet ein wichtiger Kunde Insolvenz an und alle relevanten "Schweinwerfer" gehen an >> die interne und externe Revision, der Vorstand, der Aufsichtsrat sowie die Bankenaufsicht beschäftigen sich mit der Aufarbeitung der Ereignisse. In den diversen Prüfungsberichten werden die unzureichenden bzw. fehlenden Regelungen für das Firmenkundengeschäft moniert. Wo man gestern noch Chancen und Ertragspotenzialen gesehen hat, wird nur noch von Risiken, Risikomanagement und restriktiven Regelungen gesprochen.   

 

Das zweite Jahr:

... beginnt mit der Abarbeitung der Maßnahmen aus den internen und externen Prüfungsberichten. Alles rund um das private und gewerbliche Kreditgeschäft wird sehr präzise und detailliert in Arbeitsanweisungen, technischen Vorgängen und der Kreditrisikostrategie geregelt. Die Bereiche Organisation, Kreditmanagement und Revision arbeiten intensiv und sorgfältig. Nichts wird dem Zufall überlassen. Die in Folge der Ereignisse verunsicherten Kollegen des Kreditmanagements arbeiten nun streng nach Vorschrift und fordern für jede Abweichung eine Ergänzung der vorhandenen Regelungen bzw. lassen diese von ihren Führungskräften genehmigen. Das Misstrauen zwischen den Beteiligten steigt. Die bis dato loyalen Firmenkunden wenden sich nach und nach ab, da die Bearbeitungszeiten zu lange und die erarbeiteten Lösungen im Sinne eines Preis-/Leistungsverhältnisses nicht mehr marktfähig sind.   

 

Das dritte Jahr:

… beginnt mit einem Donnerwetter der Geschäftsleitung, weil die Erträge im Firmenkundengeschäft komplett eingebrochen sind. Die gesamte Organisation leidet unter den starren und bürokratischen Regelungen. Aus Perspektive des Vertriebes dauert nicht nur die Bearbeitung der Kreditanträge in der Marktfolge zu lange, sondern es mangelt gemäß deren Wahrnehmung auch an der Unterstützung für die vertrieblichen Belange. Die Kreditspezialisten im Backoffice bemängeln hingegen die Aufbereitung der Kreditanträge durch den Vertrieb. Die unterschiedlichen Ziele (Markt: Vertriebsergebnisse in Form von Deckungsbeiträgen, Marktfolge: Risiko- und Fehlerquoten) machen die Zusammenarbeit zunehmend schwieriger. 

 

Doch dann raufen sich Markt und Marktfolge zusammen und versuchen trotz der umfangreichen Regelungen tragfähige Lösungen für die Kunden zu finden. In der Folge stellt die interne Revision in großem Stil Abweichungen von der schriftlich fixierten Ordnung fest. Nachdem auf der Vorderbühne der Organisation wegen der Regelungsdichte keine tragfähigen Lösungen mehr gefunden werden konnten, wird zunehmend "unter dem Radar" gearbeitet. Das stabilisiert zwar wieder die Erträge im Firmenkundengeschäft sorgt aber für neue Probleme ….

 

Das vierte Jahr:

Die VR Bank Irgenwo droht zu zerreißen. Auf der einen Seite gibt es die Kräfte die die Regulatorik und die potentiellen Risiken im Blick haben und auf die Einhaltung der schriftlich fixierten Ordnung drängen. Auf der anderen Seite formieren sich Kräfte, welche die Chancen und die Erträge in diesem Kundensegment sehen, das Marktgebiet bietet umfangreiche Vertriebschancen. Diese Interessengruppe ist der festen Überzeugung, dass man mit den starren Prozessen und Regelungen sowie mit der starren, absichernden Haltung mancher Marktfolgekollegen diesen Marktchancen nicht begegnen kann; oft sind sie nun bei Finanzierungsangeboten "zweiter Sieger". 

 

Doch dann bekommt die VR Bank Irgendwo einen neuen Geschäftsleiter, Herrn Huber. Ein alter Hase im Kreditgeschäft, welcher sich intensiv mit moderner Wertschöpfung auseinander gesetzt hat. Komischerweise hört er die ersten Wochen nur zu, fragt interessiert nach, sucht intensiv nach Details und Unterscheidungen und macht sich sehr viele Notizen. Alle sind verunsichert, weil er nur aufnimmt und sich nicht positioniert. Doch dann hat er wohl genug gehört:

 

Er trommelt alle Führungskräfte zusammen und konfrontiert diese mit der von ihm beobachteten Kultur in der Organisation. Nachdem er von außen kommt, (noch) nicht betriebsblind und ein guter Beobachter ist, trifft er voll "ins Schwarze" - alle Anwesenden fühlen sich ertappt. Im Raum spürt man eine tiefe Betroffenheit, nachdem manches Verborgene nun endlich ausgesprochen wurde. Die anwesenden Führungskräfte beginnen darüber zu diskutieren. Herr Huber lächelt in sich hinein, schließlich wollte er genau das erreichen - eine Diskussion innerhalb des sozialen Systems in Folge der Konfrontation der Organisation mit der eigenen Kultur. Zum Ende der Veranstaltung avisiert er einen Folgetermin, in dem er über die Neuausrichtung des Firmenkundengeschäftes diskutieren möchte.

 

Er erklärt allen Beteiligten, dass das Chaos genau so kommen musste, weil man im Firmenkundengeschäft: 

 

  • in den Jahren vor der Insolvenz des Firmenkunden deshalb so erfolgreich war, weil alle Beteiligten in Markt und Marktfolge gemeinsam zeitnah um Lösungen gerungen haben und es keine gegenläufigen internen Ziele gab. Alle Beteiligten waren erfahren und brauchten auch deshalb keine Regelungen, welche diese dann sowieso selten zum Problem gepasst hätten. Schließlich erwarten die gewerblichen Kunden in diesem Segment individuelle, passgenaue Finanzlösungen.  
  • Die umfangreichen Regelungen im Kreditgeschäft im zweiten Jahr waren die logische Konsequenz aus den Ereignissen aus dem ersten Jahr. Die Regelungen stellten zwar Revisoren, Wirtschaftsprüfer, Geschäftsleiter und Bankenaufseher zufrieden, sorgten aber dafür, dass die Firmenkunden nicht mehr zeit- und bedarfsgerecht bedient werden konnten. Warum? Weil es eben neben dem komplizierten Teil auch einen komplexen Teil der Wertschöpfung gibt. Die Regeln in Form von Arbeitsanweisungen und Prozessen / technischen Vorgängen passten aber nur zur Wertschöpfung der Norm (kompliziert - blau). Für die Wertschöpfung der Ausnahme (komplex - rot) hätte man nach Meinung von Herrn Huber sogenannte "Prinzipien" benötigt. Er erklärt das sehr detailliert (vgl. Geno-Impuls Nr. 1 und 2) und bei den Kollegen fängt es langsam an zu dämmern...
  • Wenn auf der Vorderbühne der Organisation nichts mehr läuft, dann wandert die Wertschöpfung eben auf die Hinterbühne (siehe drittes Jahr). Die Beteiligen finden dann Lösungen im Sinne der Firmenkunden "auf dem kurzen Dienstweg".

 

Das Kreditgeschäft wird auf Basis dieser Erkenntnisse komplett neu strukturiert. Für den blauen Teil der Wertschöpfung (z.B. Kontoeröffnung, Dispokredit, Adressänderung …) bleibt man bei den eingeführten Regeln in Form von technischen Vorgängen. Auf Arbeitsanweisungen verzichtet man jedoch komplett, da man alle mit der Verrichtung notwendigen Informationen im Prozess (Vorgangsbeschreibungen) integriert. Das macht es für die Anwender deutlich einfacher, denn ein Querlesen von Arbeitsanweisungen parallel zur Bearbeitung des Vorganges entfällt; positive Nebenwirkung: die Fehlerquoten in diesem "Brot- und Buttergeschäft" sinken stufenweise. 

 

Für den komplexen Teil der Wertschöpfung verhandeln die Beteiligten gemeinsam Prinzipien für das Kreditgeschäft. Diese orientieren sich am Ergebnis, der Weg dort hin bleibt jedoch offen. Dieser muss im Einzelfall diskutiert und erarbeitet werden. Es entsteht soziale Dichte. Als Ausfluss aus der neuen Form der Zusammenarbeit erwächst zunehmend gegenseitiges Vertrauen zwischen den Beteiligten. Dieses und die Fähigkeit intensiv und konfrontativ zu diskutieren, macht aus den Kollegen ein echtes Team - es entsteht eine sog. Hochleistungsinsel innerhalb der VR Bank Irgendwo. Die Bank wird für Ihre innovativen Finanzdienstleistungen für Firmenkunden mehrfach ausgezeichnet. 

 

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Ich werde nun im zweiten Teil dieses Geno-Impulses versuchen den Unterschied zwischen Regel und Prinzip abstrakt zu erläutern und Ihnen Vorschläge für die jeweilige Anwendung unterbreiten. Auch hier geht es wieder wie so oft in der Systemtheorie um unterscheidendes Bezeichnen durch Beobachtung (vgl. auch Geno-Impuls Nr. 2).  

 

Eine Regel folgt immer einer Wenn-Dann-Logik (sogenannte Kausalbeziehung). Wenn die letzte Legitimationsprüfung länger als 12 Monate zurückliegt, dann ist diese erneut durchzuführen ODER Wenn die Ampel rot ist, dann darf die Strasse nicht überquert werden. Aus dem Vorhandensein eines Sachverhaltes ergibt sich also unmittelbar eine Handlung oder ein Verbot. Eine Regel ist also "laut" - diese muss nur ausgeführt werden. Eine Entscheidung ist vom Ausführenden nicht erforderlich. Wann helfen Ihnen Regeln bzw. was muss erfüllt sein, damit man wirksam zum Ziel kommt?

  1. Das Problem muss vorab bekannt sein und
  2. dieses muss revolvierend und gleichartig auftreten und
  3. es muss ausreichend Wissen zur Problemlösung vorhanden sein (zweiter Teil der Wenn-Dann-Logik). 
Regeln helfen Ihnen also ausschließlich für den blauen / komplizierten Teil Ihrer Wertschöpfung; sie reduzieren Komplexität im Unternehmen. Regeln werden immer von übergeordneten Stellen (bis hinauf zur Geschäftsleitung) in Kraft gesetzt, schaffen Sicherheit in einem trägen Marktumfeld und vermeiden Verschwendung von Ressourcen (wiederkehrende Probleme müssen nur 1 x durch Aufbau von Wissen gelöst werden). Die Missachtung von Regeln mündet im Chaos. Leider sinkt dieser Teil der Wertschöpfung im genossenschaftlichen Umfeld (vgl. hierzu meine Startseite) und damit eben auch die Wirksamkeit mancher Regel ...
Mein erster Praxistipp: Immer dann wenn kontrovers / heftig über eine spezifische Regel in VR Banken diskutiert wird, ist das ein Indiz dafür, dass ein komplexes Problem vorliegt für das eben eine solche Regel nicht taugt >> Feststellungen in Prüfungsberichten, hohe Fehlerquoten, bewusste Nichtbeachtung der Regel etc. Hier braucht es dann ein sogenanntes Prinzip
Ein Prinzip ist im Gegensatz zur Regel stumm; es orientiert sich immer am Ergebnis, beschreibt also den Zustand, wie er nach dessen Anwendung sein sollte. Es lässt den Beteiligten den Weg zum Ergebnis offen, dieser muss durch soziale Interaktion ausgehandelt werden - es muss also von den Beteiligten eine Entscheidung getroffen werden. Nachdem man sich bei deren Anwendung auch irren* kann, braucht es Verantwortung von den Beteiligten. Übrigens: Prinzipien sind kontextfrei, gelten also immer. Nur Prinzipien helfen für Arbeit in einem komplexen Umfeld bzw. für den roten, dynamischen Teil der Wertschöpfung. Durch Ihre Universalität erzeugen diese eine gewissen Form der Sicherheit im Sinne einer Leitschnur. Zwingende Voraussetzung hierfür sind jedoch "mündige" Mitarbeiter (siehe unten - dritter Praxistipp).
Noch kurz ein Beispiel um Ihnen den Unterschied zwischen Regel und Prinzip zu veranschaulichen:
  • Regel: Die Axt ist alle zwei Stunden zu schärfen.
  • Prinzip: Wir arbeiten stets mit scharfer Axt.   
Weitere Beispiel für Prinzipen aus der Praxis: 
  • Wir sind sparsam (Aldi).
  • Don't be evil (Google)
  • Wir verhalten uns im Straßenverkehr so, dass von uns keinerlei Gefahr für andere ausgeht.
  • Kreditrisiken werden angemessen bepreist. 
*Die Abweichung von der Regel nennt man Fehler, die Anwendung eines Prinzips führt hingegen ggfs. zu einem Irrtum. Dies macht einen fundamentalen Unterschied! 
Mein zweiter Praxistipp: Sie müssen durch Beobachtung unterscheiden können, wo Sie nach wie vor wirksam mit Regeln arbeiten können und wo die Einführung von Prinzipien sinnvoll ist - blau versus rot, kompliziert versus komplex ... Vielleicht hilft Ihnen ein Blick zum Geno-Impuls Nr. 2
 
Mein dritter Praxistipp: Es muss Führungskräften / Geschäftsleiterinnen /-ern gelingen, ein Umfeld zu schaffen, in welchem Mitarbeiter bereit sind Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Nur wenn Sie den Mitarbeitenden Ihr Vertrauen entgegen bringen und wenn diese es spüren, wird die Arbeit mit Prinzipien gelingen. Wichtig dabei: sprechen Sie Vertrauen niemals aus und fordern Sie dieses auch nicht aktiv ein, sondern lassen Sie dieses durch Ihre tägliche Arbeit, Ihre Interaktion mit Menschen und Ihre Haltung wirken. Wer Vertrauen einfordert,  erntet im schlimmsten Fall Heuchelei. Aus Zutrauen entsteht Vertrauen. Nur durch echtes, rückhaltloses Vertrauen werden die Kolleginnen und Kollegen die eingeführten, "erwachsenen" Prinzipien im jeweiligen Kontext sinnvoll mit Leben füllen und Sie damit die Organisation erfolgreich in die Zukunft führen. 

 

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