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Geno-Impuls Nr. 10

Ein Spitzenwein aus dem Bordelais und der Kommunikationsbegriff der Systemtheorie - ein Zusammenhang?

Von Thomas M. Brösamle

 

Die frankophilen Weinkenner unter Ihnen kennen sicherlich Chateau Palmer in Margaux im Bordelais (rive gauche). Wie bei alle großen Weingütern in Bordeaux werden Trauben von jungen Rebstöcken oder weniger bevorzugten Lagen zu einem Zweit- oder Drittwein verarbeitet und mit einem eigenen Label vermarktet. So auch bei Chateau Palmer, der Zweitwein Alter Ego erzielt in guten Jahrgängen deutlich 3-stellige Preise.

 

Die beiden Begriffe Alter (der andere) und Ego (ich) sind wesentliche Elemente um den Kommunikationsbegriff der soziologischen Systemtheorie zu erklären. Wichtig: Lösen Sie sich zunächst gedanklich von allem was Sie bisher über Kommunikation gelernt haben (Sender-Empfänger-Modell, die vier Seiten einer Nachricht von Friedemann Schulz von Thun etc.).  

   

 

Der soziologische Kommunikationsbegriff ist wie alles in der Systemtheorie leider nicht trivial, ist aber auf viele weitere Bereiche anwendbar bzw. bietet uns einen guten Erklärversuch an.

 

Zunächst aber einmal Beispiele aus dem beruflichen Alltag und einem historischen / militärischen Kontext. Auf beide Phänomene ist die Systematik dieses Kommunikationsbegriffes anwendbar bzw. übertragbar:

 

  1. In der VR Bank Irgendwo diskutiert man über die Notwendigkeit der Einführung eines neuen Produkts. Neben einem Vorstandsmitglied sind weitere Führungskräfte aber auch Mitarbeiter und Spezialisten ohne Führungsverantwortung im Sitzungszimmer zu gegen. Eine junge Kollegin, welche erst seit kurzem in der Bank ist, lehnt sich weit aus dem Fenster, kritisiert das heutige Vorgehen um ihren (konstruktiven und innovativen) Vorschlag besser erklären bzw. untermauern zu können. Alle Anwesenden sind wegen des forschen Vorgehens und der ungewöhnlichen Idee irritiert und keiner kommentiert diese; der Vorschlag läuft ins Leere. Daraufhin ergreift der anwesende Vorstand das Wort, alle hören ihm aufmerksam zu und obwohl objektiv betrachtet der Vorschlag der jungen Kollegin deutliche besser war, pflichten ihm alle bei und es setzt sich eine Diskussion zur Konkretisierung des Vorschlags fort. Man kann das Phänomen der HiPPO (Highest Paid Person's Opinion) beobachten.
  2. Stellen Sie sich zu Zeiten Napoleons vor, dass der Feldherr auf dem hohen Ross am Schlachtfeld auf den Hügel reitet und seine Soldaten lautstark zum Angriff auffordert. Folgende zwei Möglichkeiten können eintreten: entweder befolgen die Soldaten den Befehl und ziehen in die Schlacht, oder aber (losgelöst vom jeweiligen Motiv des / der Soldaten) verweigern sie sich und ziehen sich in ein sicheres Gefilde zurück.

Zunächst mal einige Grundlagen und Begriffsklärungen, welche wir zum besseren Verständnis benötigen. Idealerweise lesen Sie zunächst meinen Geno-Impuls Nr. 5 als Einführung in die Systemtheorie.

 

  1. Nicht Menschen (besser Personen = psychische Systeme) kommunizieren; hierzu sind nur soziale Systeme in der Lage. Dort wo mindestens zwei Personen in einem sozialen System interagieren entsteht an dieser Stelle eine Art „Kommunikationswolke“ oder „Kommunikationsbündel“
  2. Kommunikation ist in der Interpretation von Niklas Luhmann die "Einheit aus den Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen". Diese Einheit kann nur ein soziales System herstellen und aufrecht erhalten.
  3. Für die Erklärung der systemtheoretischen Kommunikation benötigen wir Alter und Ego. Vorsicht: diese nehmen zwar an der Kommunikation im sozialen System teil, kommunizieren aber selbst nicht. 
  4. Die Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen reduziert Komplexität in sozialen Systemen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen über das Münchner Oktoberfest: tausende von Reizen „prasseln“ auf Sie ein. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig als Informationen bzw. Reize zu selektieren - nur dann können Sie manche verarbeiten bzw. aufnehmen. 
  5. Schritt 1: Alter selektiert zunächst eine Information als für sich relevant. Im Schritt 2 selektiert dieser die Art und Weise der Mitteilung bzw. Übermittlung und sendet diese an Ego ab. Was nun passiert liegt nicht mehr in seinem Einflussbereich! Im Schritt 3 versteht Ego die Mitteilung oder auch nicht. Nur Ego entscheidet ob und wie er diese Mitteilung aufnimmt bzw. versteht.
  6. Ein bloßes bzw. direktes Übertragen eines interpretationsfreien Informationspaketes von Alter zu Ego scheidet im Sinne der Systemtheorie aus. Luhmann spricht bei Kommunikation von einer Aneinanderreihung von Missverständnissen. Wäre das nicht so, wäre irgendwann Alles gesagt und verstanden und es gäbe keine Notwendigkeit mehr zum Austausch bzw. zur Kommunikation.  
  7. Ist die Kommunikation anschlussfähig, setzt sie sich fort. Alles was nicht (mehr) resonanz- oder anschlussfähig ist stirbt ab bzw. setzt sich eben nicht mehr fort.
  8. Soziale Systeme sind operational geschlosssen, vereinnahmen also Personen (psychische Systeme) nicht. Diese sind über die sogenannte strukturelle Kopplung mit ihnen verbunden. Diese operationale Geschlossenheit erklärt bei psychischen Systemen das Phänomen, dass kein Gedanke die Person und bei sozialen Systemen keine Kommunikation dieses verlässt. Eine Besprechung und ihre Ergebnisse verlässt also in der Regel nicht die Firma, ein Gespräch beim Abendessen bleibt ebenfalls im sozialen System Familie. 
  9. Kommunikation ist in der Auslegung der Systemtheorie unwahrscheinlich. Warum? Wegen der doppelten Kontingenz auf beiden Seiten (Alter und Ego). Kontingenz bedeutet in diesem Zusammenhang, dass etwas so aber auch anders passieren kann. 
Der Mitarbeiter Friedrich-Wilhelm (Ego) geht in der Mittagspause durch die Stadt und wird von einem Obdachlosen (Alter) um Geld gebeten. Möglichkeit 1: Er ist genervt, ignoriert den Bettler und geht einfach weiter. Hat im Sinne der Systemtheorie Kommunikation stattgefunden? Nein, das Kommunikationsangebot des Obdachlosen war nicht anschlussfähig. Die Kommunikation beginnt bei Ego; erst wenn dieser auf das Kommunikationsangebot von Alter reagiert findet Kommunikation statt. Möglichkeit 2: Er bleibt stehen, gibt dem Bettler Geld bzw. spricht mit diesem. Es findet Kommunikation im Sinne der Systemtheorie statt. Die Reaktion bzw. Erwiderung von Friedrich-Wilhelm (Ego) bezeichnet man dann als Folgekommunikation
 
Der Vorstand Huber (Ego) schlendert Abends durch die Altstadt zum Window-Shopping. Leider hat er seine Brille am Schreibtisch liegen lassen und sieht deshalb mäßig gut in die Ferne. Auf der anderen Straßenseite richtet sich eine Dame (Alter) die Haare. Situationsverlauf 1: Herr Huber interpretiert die Handlung „richtig“ und geht einfach weiter; folglich hat keine Kommunikation stattgefunden. Situationsverlauf 2: Herr Huber missinterpretiert das Haare richten als Winken und winkt zurück - durch seine Reaktion hat Kommunikation stattgefunden. Situationsverlauf 3: Die Dame denkt sich: was will der denn von mir, den kenne ich doch überhaupt nicht und geht einfach weiter; es findet also keine Folgekommunikation statt. Situationsverlauf 4: Die Dame denkt sich: was für ein höflicher Herr und winkt zurück; es findet eine Folge-Folgekommunikation statt. 
 
Herausstellen möchte ich in diesem Zusammenhang nochmals, dass das Entscheidende ist, dass die Kommunikation bei Ego beginnt. Nur wenn dieser auf das Angebot von Alter eingeht, schließt sich der Kreis bzw. es kommt zur Kommunikation. 
 
Zum Abschluss noch der systemtheoretische Transfer der Kommunikationsauslegung auf die beiden oben dargestellten Situationen:
  1. In der beschriebenen Diskussion rund um das neue Produkt war der Vorschlag der jungen Kollegin nicht resonanz- oder anschlussfähig und ist deshalb nicht weiter diskutiert worden. Vermutlich verschwindet dieser trotz seiner Berechtigung für immer im Nichts. Der Vorschlag des Vorstandes war hingegen anschlussfähig und hat sich fortgesetzt.
  2. Im obigen militärischen Beispiel beginnt die Führung nicht beim Feldherr, sondern bei den Soldaten. Folgen ihm diese findet die Schlacht statt - ansonsten eben nicht. Führung (egal ob im privaten, beruflichen oder politischen Kontext) beginnt immer beim Geführten und eben nicht beim Führenden. Die Geführten spendieren dem Führer ihre Gefolgschaft. Auf die Thematik "Führung" kann man also ebenfalls diese Systematik des soziologischen Verständnisses von Kommunikation anwenden.

 

Reflektionsgedanken:

  • Wenn sie gute Diskussionsergebnisse wollen, suchen sie hierarchiefreie Diskussionsformate. Sie werden sonst immer dem Dilemma „HiPPO“ aufsitzen. Alle "schielen" auf die Chefs und deren Äußerungen, obwohl vielleicht Vorschläge von Teilnehmern mit weniger Ansehen deutlich besser sind. Je hierarchischer eine VR Bank ausgerichtet ist, desto ausgeprägter ist das zu beobachten. 
  • Ein wirklich schwieriges Thema: Egal wie präzise sie Dinge formulieren, letztlich haben sie nur mittelbar Einfluss auf das was bei Ihrem Gegenüber ankommt (Selektion des Verstehens). Hat man das einmal verinnerlicht, versteht man das Dilemma, dass Dinge beim Empfänger teilweise völlig anders oder völlig falsch (aus Perspektive des Senders) ankommen. Niklas Luhmann spricht von der Aneinanderreihung von Missverständnissen.
  • Vielleicht kennen Sie das Phänomen, dass Mitarbeiter sich von anderen Mitarbeitern "führen" oder beeinflussen lassen, obwohl diese keine formale Macht besitzen. Die Geführten spendieren also dem einen Mitarbeiter Ihre Gefolgschaft. Ein freiwilliger Akt, sichtbar durch eine sogenannte soziale Macht. Werden Sie sich darüber im Klaren, dass Führung nur durch bloße formale Macht (also ohne soziale Anerkennung) für die Geführten auf Dauer zu einer Vielzahl an Problemen führt. Sicherlich kennen Sie einige Beispiele in Ihren VR Banken. Mir jedenfalls fallen einige ein...

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